Die Denkpause nutzen: Strategien zur Verfassung für Europa

Jean-Claude Juncker: “Eine Stunde Krieg in Europa ist teurer als zehn Jahre europäischer Haushalt und europäische Transferleistungen.”

Auszüge einer Rede, die Premierminister Jean-Claude Juncker am 21. November 2005 an der Berliner Humboldt-Universität hielt.

Spätestens seit Mitte Juni steckt Europa in einer Krise, in einer tiefen Krise. Glauben Sie denen nicht, die denken, dies wäre nur eine der üblichen europäischen Krisen. Diese Krise sitzt wesentlich tiefer. Dementsprechend länger werden wir auch brauchen, um aus dieser Krise herauszufinden.

In diese tiefe europäische Krise sind wir trotz einiger nicht unwesentlicher und richtiger Grundsatzentscheidungen geraten, die wir in der ersten Jahreshälfte zu treffen wussten. So haben wir beispielsweise im März den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert. (…)Wir haben diesem Stabilitätspakt eine ökonomische Ratio gegeben, die ihm in seiner ersten Ausführung ganz einfach fehlte.

Wir haben auch im März die so genannte Lissabonner Reformagenda zwischenbilanziert. (…)Wir haben die Verantwortungsbereiche klarer festgelegt, indem wir (…) klar gestellt haben, dass die eigentliche Hauptaufgabe, die Reformprozesse in der europäischen Volkswirtschaft betreffend, bei den nationalen Regierungen liegen und nicht so sehr auf der europäischen Ebene angesiedelt sind. (…)

Wir haben in Sachen europäische Entwicklungspolitik deutliche Fortschritte erzielt, dadurch, dass wir imstande waren, uns darüber zu verständigen und uns demgemäß auch in die Pflicht genommen haben, die europäische Entwicklungshilfe auf 0,56% des europäischen Bruttosozialproduktes bis zum Jahre 2010 und auf 0,7% bis zum Jahre 2015 anzuheben. Das bedeutet immerhin jedes Jahr 20 Milliarden Euro mehr, die zum Kampf gegen die Armut in der Welt bereitstehen. Ich halte dies für ein wichtiges europäisches Unterfangen.

Stolz auf Europa

Wieso ist es eigentlich zu diesem betrüblichen Zustand europäischer Dinge ab Juni 2005 gekommen? (…)

Der erste Fehler (…) ist wohl der, dass wir alle dauernd schlecht über Europa reden. Ich kenne keinen anderen Verein, der so schlecht über seinen Verein redet wie wir Europäer dies machen. (…) Europa ist gut wenn wir uns durchsetzen, Europa ist schlecht wenn wir uns nicht durchsetzen können.

Dann sind wir (…) nicht im Geringsten stolz auf Europa. (…) Wie selbstverständlich uns das Friedliche an unserem Kontinent vorkommt, wie unbedacht wir eigentlich mit diesem höchsten Gut des Friedens umgehen. (…)

Der Euro ist ein weiteres Beispiel, das uns stolz machen könnte. (…)

Stolz sollte man darauf sein, dass zwölf Staaten das wichtigste Attribut nationaler Souveränität abgegeben haben, und in einer Art und Weise zentral zusammengeführt haben, das Europa wesentlich stärker gemacht hat. (…)

Wir machen auch noch den Fehler, dass wir das Richtige manchmal falsch machen. Ich rede von der Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa. (…)

Um die Europäische Union herum findet man (…) in hohem Maße nicht stabile Staaten, die es 1989-1990 noch überhaupt nicht gab. Diese (…) Staaten frei treiben zu lassen, ihnen nicht den Zugang zur europäischen Solidaritäts- und Stabilitätswerft zu eröffnen war eine historische Verantwortung, die man nicht übernehmen konnte. Wir mussten diesen Staaten, den Weg in diese Europäische Union hinein ebnen, ansonsten die Verhältnisse in Europa wesentlich unstabiler wären, als sie es zurzeit sind. Diese unzähligen Grenzkonflikte zwischen diesen neuen Staaten, die ethnischen Spannungen, die es quer durch diese neuen Demokratien gibt, die ungelösten Minderheitsfragen, die es in fast jedem dieser neuen Mitgliedstaaten gibt, all dies hätte sich zu einer Problemdichte weiter entwickelt, die, wenn sie sich entladen hätte, die Verhältnisse in Europa wesentlich destabilisiert hätten. (…)

Wir reden auch noch manchmal über das Falsche. Wir reden viel zu viel über Geld. (…)

Europa ist mehr als nur der europäische Haushalt. Er muss korrekt finanziert werden und kein Mitgliedsland darf mehr als adäquat belastet werden. Aber eine Stunde Krieg in Europa ist teurer als zehn Jahre europäischer Haushalt und europäische Transferleistungen. (…)

Vieles ist gut in Europa, wenn mich auch manches stört. Aber etwas ist gut, nämlich dass das Lebenswerk unserer Vorgänger uns in eine Welt hineingesetzt hat, die eigentlich wesentlich besser ist als alles das, was es an Welt vorher in Europa gab. Winston Churchill, auf dem Höhepunkt seiner moralischen Autorität angekommen, sagte 1948 beim Haager Pan-Europakongress, vor der Weigerung der Sowjets die ost- und mitteleuropäischen Staaten an den Mitteln des Marshall-Plans teilnehmen zu können und der Weigerung dieser Staaten, durch Moskau diktiert nicht am europäischen Einigungsprozess teilzunehmen: wir fangen heute im Westen an, was wir eines Tages im Osten beenden werden. Da sind wir angekommen und das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

Lesen Sie den vollständigen Text auf “gouvernement.lu”