Premierminister Jean-Claude Juncker über das bevorstehende EU-Gipfeltreffen in Brüssel im Luxemburger-Wort Interview von Donnerstag, dem 11. Dezember 2003 (Gespräch mit LW-Redakteur Gerd Werle)
Luxemburger Wort: Herr Premierminister, wird am Wochenende die europäische Verfassung für 450 Millionen Europäer beschlossen?
Jean-Claude Juncker: Ich gehe davon aus, dass es uns vor Beginn der nächsten Woche gelingen wird, sich auf einen europäischen Verfassungstext zu einigen. Dies setzt allerdings voraus, dass dieser nicht nur eine Beschreibung hehrer Absichten ist, sondern dass sich die Europäische Union effiziente Instrumente gibt, um praktische Politik umsetzen und absichern zu können. Falls am Ende unserer Gipfelarbeiten der Eindruck besteht, dass wir uns nur auf einen ambitionslosen Text einigen könne, wäre ich jedoch sehr dafür, dass wir uns einige zusätzliche Momente geben, um uns zu besinnen. Man wird jedenfalls erst im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Frage entscheiden können, ob man dem Verhandlungspaket zustimmen kann oder es ablehnen muss.
Also besser keine Einigung als eine schlechte Einigung?
Jean-Claude Juncker: Wenn sich im Rahmen der Gesamtwürdigung der Eindruck verfestigt, dass es sich um weniger als einen Minimalkonsens handelt, dann wird man nein sagen müssen.
Berlin und Paris hatten in Nice der Stimmengewichtung für Spanien und Polen zugestimmt. Der Vertrag von Nice ist von 25 Staaten ratifiziert worden. Hatte der Verfassungskonvent überhaupt ein Mandat, einen neuen Vorschlag zur Stimmenverteilung zu unterbreiten?
Jean-Claude Juncker: Ich darf daran erinnern, dass ich schon in Nice selbst und den Wochen danach konstant behauptet habe, dass der Vertrag von Nice der Europäischen Union nicht erlauben wird, sich nach erfolgter Erweiterung als steuerbar zu erweisen. Man hat mich damals als Nestbeschmutzer beschimpft. Jetzt stelle ich fest, dass fast alle die Auffassung vertreten, Nice müsse auch in seinen institutionellen Aspekten neu eingerichtet werden, um der EU Entscheidungsgewalt zukommen zu lassen. Der Konvent hat eine kritische Analyse des Vertrags vorgenommen. Ich bin der Auffassung, dass wir die komplizierte Stimmengewichtung durch ein einfacheres System ablösen müssen, nämlich genau das, was Luxemburg schon in Nice vorgeschlagen hatte, nämlich die doppelte Mehrheit. Eine luxemburgische und eine deutsche Stimme zählen gleich.
Das heißt…
Jean-Claude Juncker: Das heißt, dass jedes Land über eine Stimme verfügt, große und kleine werden strikt gleich behandelt. Eine deutsche und eine luxemburgische Stimme haben bei der Abstimmung über einen Kommissionsvorschlag die gleiche Bedeutung. Dieses System ist eurodemokratisch, weil der demographischen Größe bedingt Rechnung getragen wird. Die so zustanden gekommene Mehrheit muss nämlich einer Mehrheit in der europäischen Bevölkerung von 60 Prozent entsprechen. Damit kombiniert man das Gleichheitsprinzip mit dem Proportionalitätsprinzip. Jetzt gibt es eine Mehrheit für die doppelte Mehrheit.
Müssen diese Fragen denn jetzt unbedingt in Brüssel geklärt werden? Oder sollte man die heikelsten Themen wie Stimmengewichtung im Rat und Zahl der Kommissare auf 2009 verschieben? Dann würde erst einmal der Vertrag von Nice gelten.
Jean-Claude Juncker: Drei Fragen gilt es im institutionellen Bereich zu klären: Erstens, wie wird die Präsidentschaft des Europäischen Ministerrats funktionieren, nachdem wir uns im Grundsatz darauf geeinigt haben, dass der rotierende sechsmonatige Vorsitz abgeschafft wird? Der Konvent hat diese Frage unbeantwortet gelassen. Wir haben kritisiert, dass wir aus dieser Dunkelkammer rausmüssen. Ich stelle fest, dass alle damit einverstanden sind, dass diese Frage geklärt wird. Wir müssen eine Entschließung des Europäischen Rates annehmen, die besagt, dass wir eine Gruppenpräsidentschaft für 12, wahrscheinlich aber für 18 Monate in den Fachministerräten haben werden. Zweitens, bei der Zusammensetzung der Kommission haben der Benelux-Vorschlag und der Konventsvorschlag kaum Aussicht auf Erfolg, so dass ich davon ausgehe, dass wir bis 2014 eine Kommission haben mit einem stimmberechtigten Mitglied pro Land. Nach 2014 müssen wir dann eine kleinere Kommission bekommen, die weniger Mitglieder hat als die Zahl der Mitglied-Staaten beträgt. Allerdings muss die Besetzung dieser reduzierten Kommission aufgrund des Gleichheitsprinzips vorgenommen werden.
Damit wäre die Regelung von Nice um fünf Jahre verschoben?
Jean-Claude Juncker: Ja. Drittens, Stimmengewichtung im Rat. Man darf nicht das tun, was einige vorschlagen, nämlich die Nice-Lösung (Mehrheit der Staaten, 71% der Stimmen, 62% der Bevölkerung) zu verlängern, um später auf die Umänderung in Richtung doppelte Mehrheit zu gehen. Ich bin sehr dafür, dass man sich jetzt für das Prinzip der doppelten Mehrheit ausspricht. Die EU braucht effiziente Entscheidungsstrukturen. Die Zukunft beginnt morgen, man kann die Vorbereitung der Zukunft daher nicht auf übermorgen verschieben, sonst läuft man logischerweise der Zukunft hinterher. Ich könnte mit einer kurzen Verlängerung der Nice-Stimmengewichtungs-Regelung leben, aber, es muss klar sein, ab wann – spätestens 2014 – die doppelte Mehrheit in Kraft tritt.
Welche spezifischen luxemburgischen Interessen wollen Sie in Brüssel durchsetzen?
Jean-Claude Juncker: Ich muss feststellen, dass die Begeisterung, in Fragen der Sozialpolitik mit Mehrheit zu entscheiden, nicht sehr verbreitet ist, auch nicht in Luxemburg. Man muss daher dafür sorgen, dass wir eine horizontale Sozialklausel in den Vertrag hineinschreiben, die uns zwingt, bei allen Entscheidungen die Sozialverträglichkeit der Betroffenen zu überprüfen.
Was schlagen sie im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vor?
Jean-Claude Juncker: Wir sind sehr intensiv an einer konsequenten, kohärenten Lösung im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik interessiert und der Auffassung, dass die vom Konvent vorgelegten Vorschläge und die Präzisionen der italienischen Präsidentschaft angenommen werden, wonach der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, wenn er seine Entscheidungen auf Vorschläge des EU-Außenministers gründet. Das ist allerdings bei den Briten noch heftig umstritten.
Und was das künftige Amt des Außenministers selbst angeht?
Jean-Claude Juncker: Wir sind dafür, dass der Außenminister Vizepräsident der EU-Kommission sein muss und den Vorsitz im Außenrat führt, also für die so genannte Doppelhutlösung.
Ist die strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich, auf die sich die EU-Außenminister auf ihrem Konklave von Neapel geeinigt haben, mehr als ein Papiertiger?
Jean-Claude Juncker: Wir brauchen eine strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Nach Möglichkeit ohne eine obligatorische Mindestzahl von teilnehmenden Staaten festzulegen. Dies soll ein jedem zu jeder Zeit offenstehender Prozess werden. Dieser muss auch dafür Sorge tragen, dass die Nato-Kompatibilität des Textes im Vertrag deutlich wird. Der Zugang zu dieser Gruppe wird aufgrund von Zulassungskriterien geregelt. Die luxemburgische Regierung befindet sich in Gesprächen mit unseren Nachbarstaaten über die genaue Ausrichtung.
Die italienische Präsidentschaft hat den Konventsentwurf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit betreffend verwässert…
Jean-Claude Juncker: Die luxemburgische Seite war mit dem Konventsergebnis sehr zufrieden, weil wir in Fragen der grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung mit Mehrheit hätten entscheiden können. Wer Europa den Bürgern näher bringen möchte, muss dafür sorgen, dass eine Politik entworfen wird, mit der man zu einer effizienten Verbrechensbekämpfung kommt. Der Vorschlag des italienischen Vorsitzes überlässt es einem späteren, nach Inkrafttreten der Verfassung zusammentretenden Europäischen Rat, zum Übergang zu Mehrheitsentscheidungen (passerelle-Klausel) zu entscheiden. Der jetzige Text ist ein absolutes Minimum. Weniger geht nicht.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Gemeinschaft in Brüssel auseinanderbricht, bevor der europäische Osten überhaupt integriert worden ist?
Jean-Claude Juncker: Dies ist die vierte Regierungskonferenz, an der ich teilnehme. Man hat uns immer das Auseinanderbrechen der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union vorausgesagt, aber diese Verantwortung wird niemand übernehmen wollen. Ich habe den Eindruck, dass die Problemmasse diesmal besonders deutlich zu bewältigen ist. Nicht weil die neuen Mitglieder mit am Tisch sitzen. Die gestandenen Mitglieder der EU haben Dissenspunkte in genügend großer Zahl angehäuft. Das Problem wird durch die Erweiterung vergrößert, aber nicht verursacht.
Es ist übrigens im höchsten Maße bedauerlich, dass zwei Streitpunkte öffentlich thematisiert werden: Stimmengewichtung im Rat und Zusammensetzung der Kommission, also Machtverteilungsfragen. Die kontroverse öffentliche Erörterung beider Themen überdeckt die Substanzfragen, die es in der Verfassung selbst zu regeln gibt. Und am Ende des Tages werden die Menschen nur darauf achten, wer sich in den oben genannten Fragen durchsetzt, und es wird kein Interesse daran.entstehen, was eigentlich vom Inhalt her Verfassungssache ist. Das ist in höchstem Maße bedauerlich und zeigt, dass wir Premier- und Außenminister nicht zum europäischen pädagogischen Spitzenteam gehören.
Premierminister Jean-Claude Juncker über das bevorstehende EU-Gipfeltreffen in Brüssel im Luxemburger-Wort Interview von Donnerstag, dem 11. Dezember 2003 (Gespräch mit LW-Redakteur Gerd Werle)