Europäisches Momentum

Europäisches Momentum

Von Claude Wiseler und Laurent Mosar*

Nach dem Mauerfall wehte 1989 der „Wind of Change“ durch die Straßen Berlins. Helmut Kohl, den Europa am Samstag würdig verabschiedet hat, wusste um die Gunst der historischen Stunde. „Politik ist, dass man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, dann zuspringt und versucht, einen Zipfel seines Mantels zu fassen“, sagte Bismarck. Sein „Mantel der Geschichte“ wurde 1989 kräftig durchgerüttelt. „Nachkriegsgigant“ Kohl hat den Mantelzipfel ergriffen und so in Beantwortung der Rufe „Wir sind ein Volk“ Geschichte geschrieben. Dabei herauskommen sind die deutsche und europäische Einheit. Kohl hat das Momentum genutzt, weil er über staatsmännische Führungsstärke und einen klaren Wertekompass verfügte. Und weil er auf die Menschen gehört hat. 28 Jahre später müssen auch wir unser Momentum nutzen! Und erneut auf die Menschen hören. Deshalb hat die CSV ihr Europapapier mit „Die Krise als Chance“ überschrieben. Jean-Claude Juncker bezeichnete 2017 als „Jahr der Entscheidungen“. 60 Jahre nach den Römischen Verträgen trifft dies mehr als zu. Hinzu kommen Brexit und Trump-Wahl. Und auch die Wirtschafts- und Finanzkrise wirkt noch nach. Die „existentielle Krise“ erst recht.

Europa-Wende und europäischer Morgen

Doch es gibt Licht am Horizont, erleben wir doch zurzeit den Beginn einer Europa-Wende. Krise und Euro-Burnout scheinen langsam überwunden. Das Wachstum zieht wieder an. Die Arbeitslosenzahlen sinken. Auch wenn 20 Millionen Arbeitslose inakzeptabel bleiben. Gleichwohl stehen wir am Anfang eines neuen europäischen Morgens! Dies sagen uns alle Umfragen. Vor allem aber die Wahlen in Österreich, in den Niederlanden und in Frankreich. Selbst in Großbritannien haben 80 Prozent der 18-24-Jährigen und 55 Prozent der 25-49-Jährigen für einen Unionsverbleib gestimmt. Auf diese Stimmen muss die Politik hören, wenn sie das Europa von morgen neu errichten will. Denn das Europa der Zukunft wird menschlich, demokratisch, bürgernah sein. Oder es wird nicht sein. Und letzteres ist keine Option!

Flexibles und offenes Kerneuropa als Resultate-Lieferant

Vor dieser Grundsatzentscheidung stehen wir also heute, wenn wir die Erklärung von Rom, das Weißbuch über die Zukunft Europas, die Reflexionspapiere der Kommission lesen. Fünf Szenarios werden vorgeschlagen: Szenario eins steht für „Weiter so wie bisher“. Nach dem Brexit-Weckruf ist dies schlichtweg unmöglich. Szenario zwei „Schwerpunkt Binnenmarkt“ reduziert die EU auf eine Freihandelszone. Auch dies ist mit uns nicht zu machen. Szenario drei ist schon interessanter: „Wer mehr will, tut mehr“. Ohne eine Ideallösung zu sein, kann ein offenes und flexibles Kerneuropa doch den EU-Motor kurzfristig wieder ankurbeln und Resultate für die Menschen liefern. Gleiches kann für Szenario vier „Weniger, aber effizienter“ gelten. Die Idee, dass Europa sich mehr um die großen und weniger um die kleinen Dinge kümmern soll, ist zukunftsweisend. Bleibt noch Szenario fünf „Viel mehr gemeinsames Handeln“, das heute nicht mehrheitsfähig ist. Zunächst muss Europa mit Resultaten überzeugen. Fazit: Die CSV spricht sich gegenwärtig für eine flexible Weiterentwicklung der Union im Sinne eines offenen Szenario drei aus. Ein dynamisches Kerneuropa, das niemanden ausschließt, kann dabei die besten Resultate liefern. Die föderale Union bleibt unser langfristiges Ziel.

Was sagen uns die Menschen?

Indes: die entscheidenden Fragen von morgen sind nicht institutioneller, sondern inhaltlicher Natur: Was sagen uns die Menschen? Welches Europa wollen sie? In welcher Zukunft wollen sie leben? Diese Fragen werden nicht auf Brüsseler Gipfeln, sondern in Europas Tälern beantwortet. Bei den Menschen. In ihrem Alltag. In den Straßen und sozialen Netzwerken. Auch die EU von morgen muss zu einem Netzwerk der Menschlichkeit werden. Sie muss wieder Wohlstand und Arbeit für alle liefern. Vollbeschäftigung mag altmodisch klingen, aber eigentlich gehört die Arbeitslosigkeit in die Mottenkiste der Geschichte. Deshalb müssen wir verstärkt auf nachhaltiges Wachstum setzen. Und somit auf die nachhaltige Soziale Marktwirtschaft. Wir müssen das Wachstum so gestalten, dass wieder Arbeitsplätze geschaffen werden. Gute Arbeitsplätze, von denen die Menschen leben können. Vor allem junge Menschen. Der Juncker-Investitionsplan gibt hier die Richtung vor. Doch noch hat Europa einen Investitionsrückstand. Dabei mangelt es nicht an Kapital, sondern an Mut und Zuversicht auch bei Investoren. Auch wirtschaftlich müssen wir das Momentum der Hoffnung nutzen, damit vor allem kleine und mittlere Unternehmen wieder Arbeitsplätze schaffen können.

Soziale Marktwirtschaft und Wir-Gefühl

Auch das Europäische Sozialmodell müssen wir im Geist der Sozialen Marktwirtschaft weiterentwickeln. Und keinesfalls abbauen! Ein erster Schritt ist hier die Einführung der Europäischen Säule sozialer Rechte. Langfristig müssen wir Europa zu einer Sozialunion ausbauen. Die Europakrise hat auch damit zu tun, dass Europa sich zu oft alleine auf den Binnenmarkt verlassen hat. Nun ist der Binnenmarkt eine große Errungenschaft. Wir müssen ihn vervollständigen. Vor allem im digitalen Bereich. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion muss mit einer stärkeren Abstimmung der Wirtschaftspolitiken vervollständigt werden. Doch weder der Euro noch der Binnenmarkt schaffen Gerechtigkeit. Sie sind nicht dazu geeignet, Menschen von Europa zu begeistern. Europa muss neue Wege gehen, um wieder die Herzen der Menschen erreichen. Nicht nur den Verstand oder den Geldbeutel. Nur so entsteht ein Wir-Gefühl, das Verträge nicht dekretieren können.

Mehr Verantwortung als Wertemacht übernehmen

Wir brauchen deshalb ein Europa der Subsidiarität, der Solidarität und der Sicherheit. Für viele Menschen ist Sicherheit Thema Nummer eins. Für uns sind innere und äußere Sicherheit zwei Seiten einer Medaille. Zwischen den Mitgliedstaaten brauchen wir in Zeiten zunehmender Terrorbedrohung eine verstärkte Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitsdiensten. Aber wir benötigen auch sichere Außengrenzen. Vor allem im Schengen-Raum. International unterstützen wir die Bemühungen der Kommission, langfristig einen europäischen Verteidigungspfeiler innerhalb der Nato zu schaffen. Der jüngste Gipfelbeschluss stimmt uns hier zuversichtlich. Auch außenpolitisch muss die EU aus ihrem Winterschlaf aufwachen. Sie muss wieder selbstbewusst als Wertemacht, als die Soft Power der Weltpolitik agieren. Aber diese sanfte Macht der Attraktion muss auch von der erwähnten harten militärischen Macht unterstützt werden. Auch sicherheitspolitisch muss Europa erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Europa täte gut daran, das globale Leadership-Vakuum schnell auszufüllen. Sonst werden andere dies tun. Gerade, aber nicht nur im Bereich des Klimaschutzes, der zurzeit von den USA sträflich vernachlässigt wird.

Solidargemeinschaft mit Rechten und Pflichten

Doch Europa ist nicht nur Wirtschaft und Soziales, Sicherheits- und Außenpolitik. Europa ist mehr als Politik, mehr als eine Vertragsgemeinschaft, mehr als eine Idee. In erster Linie ist das Europa, das wir meinen eine Gemeinschaft von Menschen. Eine Wertegemeinschaft von Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde. Eine Schicksalsgemeinschaft von Frieden und Versöhnung. Die Friedensgemeinschaft Europa bildet auch morgen das Fundament des Europäischen Hauses. Doch das Haus selbst muss wieder zu einem Haus der Bürger werden. Zu einem Haus der Resultate, in dem nicht die Freizügigkeit, sondern das Wohlstandsgefälle begrenzt wird. Gleichwohl muss auch in der Solidargemeinschaft EU gelten, dass Solidarität keine Einbahnstraße von West- nach Osteuropa ist. Wer wirtschaftliche Solidarität erfährt, muss auch politische Solidarität leisten. Ohne Solidarität werden wir in der Flüchtlingsfrage zu keinen Lösungen kommen. Oder wie Kohl einst mahnte: „Es ist leider bei uns ein Teil des Denkens geworden, dass man überwiegend von den Rechten und kaum mehr von den Pflichten spricht.“

Momentum der Hoffnung für alle Europäer

Wir wollen das gegenwärtige Momentum nutzen, um im Dialog mit den Menschen ein bürgergerechtes Europa neu zu errichten. Nicht mit Hochglanzbroschüren, sondern mit Resultaten und einer neuen Zukunftserzählung der Hoffnung! „Wir haben Hoffnung gewählt – nicht Furcht“, sagte Barack Obama 2008 bei seiner Antrittsrede. Auch wir Europäer müssen heute Hoffnung und Optimismus statt Populismus und Pessimismus wählen! Wir Politiker müssen, gemeinsam mit den Bürgern und Sozialpartnern, den hierfür notwendigen Rahmen entwerfen und mit Resultaten ausfüllen. Kurzum: wir müssen aus den Fehlern der Geschichte lernen! Und ein Europa nicht „nur“ ohne Krieg, sondern ein demokratisches Europa mit Wohlstand und Arbeit für alle schaffen! So wird aus dem europäischen Momentum ein Momentum der Hoffnung für alle Europäer. Und wenn wir die weltpolitische Lage, wie sie auch heute wieder beim angespannten G20-Gipfel in Hamburg zu Tage tritt, betrachten: vielleicht auch für die Welt. Oder wie Charles Péguy sagte: „Nur durch die Hoffnung bleibt alles bereit, immer wieder neu zu beginnen.“

Wir glauben an diese Zukunft eines erneuerten Europas der Europäer!

 

* Die Autoren sind Abgeordnete. Claude Wiseler ist zudem Präsident der CSV-Fraktion, Laurent Mosar deren außen- und europapolitischer Sprecher.