Den Wandel als Chance nutzen

Mit atemberaubender Geschwindigkeit befinden wir uns im Übergang von der traditionellen Industrie- und Produktionsgesellschaft zur Informations-, Wissenschafts- und Dienstleistungsgesellschaft. Die Rasanz der Veränderungen und Innovationen hat in den letzten 20 Jahren – einem sehr kurzen Zeitraum – in Luxemburg grundlegende soziologische Veränderungen bewirkt. Die Gesellschaft von heute ist fundamental verschieden vom Gesellschaftsbild, das wir noch vor zwei Jahrzehnten vorfanden: neue Spannungen sind entstanden, neue Gräben zwischen Gesellschaftsschichten haben sich aufgetan, der unverkennbar globale Reichtum führt zur weiteren Marginalisierung einzelner Gruppen.

Hinzu kommt ein schleichendes Angstgefühl, zum Teil begründet durch die Orientierungslosigkeit der Europa- und Weltpolitik und die Globalisierung der Weltwirtschaft, zum Teil durch die Furcht, das Erworbene in Zukunft aufgeben zu müssen.

Der Umbruch in der Wirtschaft und in allen Institutionen unserer kleinen Gesellschaft müsste an sich Politikern, Gewerkschaftern, Unternehmern und allen, die am öffentlichen Leben Anteil nehmen, neuartige Aufgabenstellungen bieten, um den Herausforderungen gerecht zu werden. Hierzu möchte ich nur einige, wohl sehr schematische und oberflächliche Anmerkungen machen:

Der wirtschaftliche Aufschwung Luxemburgs war immer verbunden mit einer Einwanderungswelle. Eine erste -hauptsächlich deutschen Ursprungs – fand statt mit der Industrialisierung des Landes Ende des 19. Jahrhunderts; sie wurde abgelöst von der italienischen, dann in den 60er Jahren von der portugiesischen, die bis heute andauert.

Wir haben es vorbildlich verstanden, die hierdurch entstandenen Probleme aufzuarbeiten durch gezielte Integrationsbemühungen dieser ausländischen Mitbürger in unsere Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt, als dies noch weit schwieriger war als heute. Ich bin davon überzeugt, dass unsere nationale Identität dadurch bereichert und gefestigt wurde.

Neue Entwicklungen haben sich für Luxemburg aus den wechselseitigen Beziehungen mit unserer Großregion gezeitigt.

Durch das Zusammenwachsen Europas werden die Großregionen stärker zum Tragen kommen. Luxemburg hat die einmalige Chance, als souveräner Staat im Herzen einer Großregion zu liegen, deren Einwohnerzahl 5 bis 7 Millionen Einwohner beträgt. Es liegt an uns mit den angrenzenden Gebieten in partnerschaftlicher Zusammenarbeit alle Möglichkeiten auf wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten zu nutzen. Hier ist noch ein großes und weitgefächertes Arbeitsfeld vorhanden.

Unsere erste Priorität ist in erster Linie, die Zukunftschancen der jüngeren und nachkommenden Generationen abzusichern. Unsere Generation hat die Grundlage für eine moderne Gesellschaft gelegt, die, so hoffe ich, eine menschliche Komponente beinhaltet. Wir dürfen jetzt nicht alle Margen, die uns zur Verfügung stehen, ausschöpfen und somit den Handlungsspielraum für unsere Jugend einengen oder sogar hypothekieren. Dies sollte der Leitfaden unserer Politik für die Zukunft sein, im Sozialbereich, im Erziehungswesen, in der Umweltpolitik. Im Gegenteil, wir sollten die Anpassungsdynamik, die in den letzten zwanzig Jahren zu dem international anerkannten Erfolg Luxemburgs geführt hat, weiterentwickeln. Die grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft wurde bewirkt durch Kreativität, Vision und die Bereitschaft, etwas zu wagen. Die Fähigkeit zum Wandel wird zu einer konstitutionellen Überlebensbedingung ebenso wie die Innovationsfähigkeit.

Aber wäre es zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht angebracht, über den Wertewandel und die neue Wertorientierung nachzudenken? Denn Werte sind wie ein Kompass, der uns hilft, den Weg zu finden. Ist die jetzige Orientierungslosigkeit nicht darauf zurückzuführen, dass der Kompass abhanden gekommen ist? Der Wertewandel, auch die Veränderung in der Rangfolge der Werte, haben in vielen Bereichen zu neuen Einstellungen und Verhältnissen geführt. Die entscheidende Herausforderung für verantwortungsbewusste Politiker wird aber bleiben, Werte nicht als Ziel zu haben, sondern sie zu leben und sichtbar zu machen. Das bedeutet, nicht nur die Gesetze des Marktes zu sehen, aber auch mit Werten in Führung zu gehen und Verantwortung zu übernehmen, um so die Zukunft zu gewinnen. So könnten wir den Wandel als Chance nutzen!

Jacques Santer Ehrenstaatsminister